Montag, 31. Dezember 2012

einen selten schönen moment

hat mir heute das interview des DLR über den neuen film von ulrich seidel "Ein Film über die Sehnsüchte von Frauen" beschert. ich erinnere mich, schön früher ein interview mit ihm zum thema gehört und es als sehr spannend empfunden zu haben.

leider kann man ja nur selten sehen, wer das interview führt, ich kann also das alter der interviewenden nicht recht einschätzen, sie klingt jung. frauen meiner generation - also pre "sex & the city" und pre "desperate housewives" - hätten wahrscheinlich eher wütend reagiert angesichts einer von ihnen messerscharf diagnostizierten "ausbeutung des weiblichen körpers".

leider gibt es kein transkript der sendung aber angesichts des kleinen erkenntnismoments, den das interview gewährt, mache ich mir mal gerade die mühe:
DLR: "margarethe thiesels nackter körper wird - ja auch - den voyeuristischen blicken des zuschauers extrem ungeschützt preisgegeben.
ich als zuschauerin, die manchmal manches auch nicht so genau sehen möchte, fange an, mich in manchen situationen regelrecht fremdzuschämen. ich dachte 'ich will das jetzt nicht so genau sehen, aber er zwingt mich jetzt dazu.' 
ich habe mich gefragt, ob sie die schauspielerin oder auch mich als zuschauerin ausreichend schützen oder eben bewusst nicht schützen wollen?"
okay. ich weiss, das ist jetzt extrem kniffelig und man muß schon sein gehirn einschalten und das köstliche dieser sätze wirklich geniessen zu können. ich jedenfalls war extrem gespannt auf die antwort.



weil, mal ganz blöde gefragt: werden wir demnächst regisseure oder filmfirmen bis auf den letzten groschen verklagen werden, weil sie uns als zuschauer/in nicht "ausreichend schützen", sprich weiter vampire, werwölfe, zombies, kettensägendemassakervirtuosen, fiese serienmörder etc auf uns loslassen - oder schlimmer noch: uns einfach die wirklichkeit so zeigen, wie sie nun mal ist.

also durchaus meistens eher hässlich und nur in glücklichen momenten so schön, wie uns das von hollywood seit fast einem jahrhundert versprochen worden ist - jemand sollte mal eine sammelklage gegen hollywood einreichen ...

hier geht es aber gar nicht um eine fiktion. 

es geht um ältere damen, die sich die zärtlichkeit, nähe oder liebe in afrika kaufen - was ich persönlich für ihr gutes recht und nicht im geringsten für moralisch verwerflich halte, auch wenn ein von spätkatholischen reflexen durchseuchte gesellschaft, die gerne "die sau durch's dorf treiben" spielt oder sich gerne als durch und durch moralisch geerdet, zum richter über die fehlbaren aufbläht, was wiederum - im gegensatz zur verklemmten sexualmoral der katholischen kirche ein eher protestantischer zug sein dürfte und in der medienwelt amerikas in seiner vollen blüte bewundert werden kann.

die interviewerin - ich bin so gemein und schinde noch ein bißchen zeit bis zur (ich verspreche: beglückenden) antwort von ulrich seidel - hat also ein problem damit, daß es sie geniert, daß eine frau nackt gezeigt wird, die jenseits der gesellschaftlich "norm" von ewiger jugend sein dürfte, und zwar offensichtlich ein so großes, daß es bei ihr heftige reaktionen, konkret "scham", hier "fremd-schämen" auslöst - und sie fragt sich ob "er", also ulrich seidel, der autor des films, genug maßnahmen getroffen hat, ihr zartes gemüt vor der erkenntnis zu bewahren, daß auch sie einmal jenseits der fünfzig und jenseits der schönheitsnorm ihren körper nackt präsentieren wird müssen. und sei es nur dem spiegel im badezimmer.

wir kennen das: wir sehen einen - echten - toten, vielleicht nur einen schwer verletzten menschen - und es es durchzuckt uns kalt, weil wir in ihm uns selbst da liegen sehen, die hülle verletzt, das leben aus uns herausströmend. nicht in einer dieser auf der basis von ketchup oder pixeln basierenden varianten, die wir täglich sehen, nein, echtes blut. echtes nacktes welkes fleisch.

ein horror.

hier glücklicherweise nur im grade des "fremdschämens".

sie schämt sich dafür, daß die frau auf der leinwand nackt, alt und welk ist. wie kann die nur dieses elend auch noch zeigen? und was - zum teufel - hat der autor unternommen oder unterlassen, um sie davor zu schützen?

hätte er nicht wenigstens um die schauspielerin, - die keine ist, sie ist so echt, wie das, was erzählt wird -, und vor allem sie vor diesem anblick schützen können? hätte er nicht wenigstens vor der szene einblenden können:
"liebe zartbesaitete frauen im publikum, bitte mal kurz wegggucken, es kommt jetzt ein hässliches, nacktes, ales weib - ich weiß, ihr werdet nie so aussehen, aber leider, leider, leider sieht sie nun mal nicht so aus wie catherine deneuve"?
ich wette, du bist auf die antwort von ulrich seidel gespannt.
Seidel: "sie als zuschauerin will ich bewusst nicht schützen. sie sind dazu aufgerufen, mit dem was sie sehen, auseinanderzusetzen und - wenn ihnen das unangenehm ist - dann muss ich ihnen leider sagen, das liegt an ihnen. das ist ja keine abwertung, was ich hier zeige, der körper der margarethe thiesel wird ja nicht bewertet."
doch, wird er - im kopf der interwierin ...

das ist der schöne moment und man wünscht sich, politiker, die wegen erotischen eskapaden oder ähnlich "moralischen" fehltritten von einer durch und durch bigotten horde selbstgefälliger heuchler gehetzt werden, fänden spontan ihrer situation angepasste antworten.

hier hat die interviewende die sanfte belehrung halbwegs gut weggesteckt, ihre stimme geriet in der folge (ab 4:30 des pods) nicht sonderlich aber doch durchaus erkennbar ins kieksen und entrüsten, vielleicht ist ihr auch gar nicht aufgefallen, wie knallhart der spiegel war, der ihr vorgehalten wurde - oder sie tröstet sich mit der üblichen ausrede von radiomoderatoren, daß sie ja sozusagen immer auch die dummste frage mit abdecken müssten, die ggfl. gestellt werden könnte - und sie selbst ja natürlich nie so, sorry to say, verklemmt und von ihrer eigenen natur entfremdet sein könnte, wie ihre frage das suggeriert.

vielleicht - auch das macht die köstlichkeit des moments - kann man hier auch das elend einer generation erahnen, deren größter horror es sein dürfte, einen verstorbenen drei tage im sarg im eigenen haus aufzubahren - eine erfahrung, vor die mich jedenfalls in meiner kindheit niemand "geschützt" hat, glücklicherweise.

vielen dank, lieber ulrich seidel, ihre antwort "made my day".

ps vom 07.01.2013.

ich hänge hier mal gerade einen link zu einem kleinen disput in telepolis an.

twister2009 hatte auf einen beitrag dort reagiert, ich auf sie, sie auf mich und ich wieder auf sie.


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