Blog Honig

Dienstag, 12. Juni 2012

überhaupt: wolfgang neuss

manchmal sitzt man ja da und eine der autoritäten der republik sondert etwas ab, bei dem man sich unwillkürlich fragt: "was hätte wolfgang neuss wohl dazu gesagt?" und diesen säulenheiligen noch mehr vermisst, als man das eh auch nach 23 jahren (du hast die fnords gesehen, werter leser?) immer noch täglich tut.

heute zb. der mann im radio erzählt, daß unser vielgeliebter bundespräsident etwas gesagt hat, bei dem dem braven bürger vor schreck der milchschaum gerinnt:

“Und dass es wieder deutsche Gefallene gibt, 
ist für unsere glücksüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.”

so ein satz ist natürlich tatsächlich "schwer zu ertragen" und bei einem ersten blick über die blog-einträge, merkt man, wie schwer sich die "glückssüchtige" gesellschaft damit tut, in den spiegel zu gucken und sich einzugestehen, daß der gauck zwar nervt mit seinem "alter mann mit pfeife und oder zigarren"-getue, das ein komplexes verständnis des satzes voraussetzt, aber auf eine gesellschaft prallt, in der sätze möglichst in 148 zeichen gegossen werden sollten, daß er aber jenseits des vorher zu erwartenden "shitstorms" wahrscheinlich recht hat.

was? der gauck hat recht?

yep. hat er. 


auch wenn er, so denke ich mal, die eine oder andere interpretation seines satzes jenseits der bewussten provokation vielleicht gar nicht mal beabsichtigt hat. ich finde es zb. tatsächlich schwer, zu ertragen, daß es "deutsche gefallene" gibt. 

nicht weil ich "glückssüchtig" bin, hedonistisch okay, aber glückssüchtig? nicht wirklich. 

ich stoße mich auch kein bißchen an dem wort "gefallene", im gegenteil, ich finde es beruhigend, daß die dinge endlich bei ihrem namen genannt werden, und noch beruhigender, daß solche worte nicht von einem unterbelichteten schönling in die öffentliche debatte abgefeuert und als "heldentat" abgefeiert werden, dessen wohl größtes verdienst darin bestanden haben dürfte, das wort "hallodri" wieder mit einem erkennbaren sinn gefüllt zu haben. 

nein, "gefallene" ist schon okay und auch das wort "wieder", in dem ein klitzekleines unbeabsichtigtes bißchen das "wir sind wieder wer" mitschwingt, hat so ewas erfrischend ehrliches. aber darüber, denke ich mal, regt sich ja in wirklichkeit niemand richtig auf. 

wir sind ja wirklich wieder "wer"

würden wir uns ein bißchen mehr ehrlichkeit mit uns selbst gestatten und jenseits der von uns als deutschen gern betriebenen endlosen jammerei darüber, daß "wir" angeblich für die ganzen offenstehenden rechnungen unserer europäischen schwestern und brüder aufkommen müssen und uns demnächst der himmel auf den kopf fällt, mal kurz die augen aufmachen, dann ist dem einwurf von ulrike guérot gestern, daß deutschland gerade den europäischen hegemon geben darf - ohne daß das von den anderen zur zeit (noch) als anstößig empfunden wird - nicht viel entgegen zu setzen.

nur, daß wir halt ein problem damit haben, damit auch umgehen zu können. 

weil wir - wie gauck das gerade so schön formuliert hat - eine glückssüchtige gesellschaft geworden sind. er hätte auch "spiel- oder vergnügungssüchtig" sagen können, ein "unernst" hätte nicht wirklich eingeschlagen. auch wenn es wohl das sein dürfte, was er im kern meint.

sollen wir das mal am beispiel gauck durch-spielen?

wir erinnern uns - auch wenn es schon so lange her ist, daß die meisten von uns den namen, das gesicht und die tatoos am körper der gattin vergessen haben - daß deutschland mal einen bundespräsidenten hatte, der mehrere schwere fehler beging und deshalb mit all unseren sünden beladen in die wüste geschickt werden musste. hatte jedenfalls der springer-verlag so beschlossen und wenn die "anderen" schon so artig sind, den steigbügel zu halten bzw. die drecksarbeit zu erledigen, wer kann schon dem willen der BLÖD ernsthaft widersprechen?

wenn wir noch ein klitzekleines biißchen weiter in der zeit zurückgehen, fällt uns auch wieder ein, warum wir uns unseren letzten bundespräsidenten überhaupt antun mussten: genau, sein vorgänger hatte in einem flugzeug davon gefaselt, daß es - jenseits unserer glücks- und harmoniesüchtigen vorstellung davon, wie der hase so läuft - am ende darum gehe, die versorgung deutschlands mit seltenen erden zu gewährleisten, wenn wir "unsere jungs" an's horn von afrika schicken, damit sie dort die piraten niederkartätschen. wenn wir das schon nicht zuhause tun dürfen, dann wenigstens dort.

das war, auch wenn das hysterische hyperventilieren im selben atemzug einsetzte, ein moment schönster offenheit, unbekümmert dahin gesprochen und von gaucks vor-vor-gänger in aller unschuld als banale wahrheit empfunden: glaubt ihr wirklich, folks, daß wir die nach afghanistan schicken, damit sie dort die menschenrechte durchsetzen, brunnen bohren und frauen vor der ortstypischen schlechten behandlung durch bärtige machos zu bewahren? nope, wir üben ein bißchen, damit wir, wenn der verteilungskampf in sein endspiel eintritt, über qualifiziertes personal verfügen.

so viel offenheit gehört natürlich bestraft.

nicht, weil er etwas skandlöses aussprach - es war eine banale wahrheit in einer zeit, in der man "krieg" nicht "krieg" und "gefallene" nicht "gefallene" nennen durfte, weil das den stillschweigenden konsens in einer damals noch "harmoniesüchtigen" gesellschaft in frage gestellt hätte. aber halt eine, die "wir" nicht ertragen können, weil uns im selben atemzug bewusst wird, daß wir in einer "wohlfühlblase" vor uns hin dämmern und es meisterhaft geschafft haben, alles so umzuettikettieren, daß wir in unserer ruhe nicht gestört werden. 

halt nur eines von den vielen tabus, mit denen wir leben gelernt haben. 

eines dieser tabus gebrochen zu haben, hatte für den vor-vor-gänger gaucks umgehend zur folge, daß der bote in guter alter tradition zuerst einmal erschossen werden sollte, bevor die nachricht störungsfrei diskutiert oder - wie gehabt - schnellstens unter den teppich gekehrt werden konnte. 

horst köhler war wenigstens so klug, die konsequenzen zu ziehen und die weitere teilnahme am spiel von sich aus zu verweigern. christian wulff war hingegen so dämlich, das spiel bis zum bitteren ende - ganz unschuld vom lande - durchzuspielen, bis er sich schließlich als "sündenbock" in der wüste wiederfand und wahrscheinlich bis heute nicht verstehen kann, was er denn bloß falsch gemach hat. 

als köhler zurücktrat und nach einem nachfolger gesucht wurde, bot sich christian wulff strategisch gesehen im endlosen spiel der aktuellen kanzlerinnendarstellerin natürlich hervorragend an, um vorsorglich einen potentiellen rivalen aus der manege zu kicken. wenn schon nicht die ursula dann doch wenigstens der christian. 

zu der zeit war gauck der heilige derer, die ihn heute nur noch zum kotzen finden

durch das internet ging eine la-ola-welle von geradezu hysterischen liebeserklärungen für den alten knarrzer und man kann diese sehnsucht nach einem von diesen (gefühlten) alten männern mit zigarre oder pfeife ja schon zu jenem zeitpunkt nur zu gut verstehen:  "bitte nicht noch einen platzhaltenden schönling, könnten wir bitte mal einen mit gehirn haben?"

es schien so etwas wie eine sehnsucht zu geben, sich zu füssen eines alten weisen mannes zu setzen und sich von ihm die verwirrende welt erklären zu lassen. gegen ihn sprach aber nicht nur die arithmetik ost-westlicher befindlichkeiten ("zwei ossis an der macht?") sondern auch und vor allem, daß der vorschlag schlicht von der falschen seite kam. von den grünen, der spd und dem, was man da schon als "netzgemeinde" verstand. 

nach dem kurzen intermezzo mit einem als präsident einer "bunten republik" wohl mißverstandenen christian wulf, bekam das lager, das sich um gauck geschart hatte, endlich seinen "willen". aber, wie das so ist, da war das medientechnische haltbarkeitsdatum von gauck längst abgelaufen und der mann war eigentlich schon auf dem weg zur wertstofftonne. 

ihn plötzlich im amt zu sehen, hatte ein bißchen was von einem weihnachtsgeschenk, das drei jahre zu spät kam - ein bißchen, wie der versuch, einer 15jährigen, die sich längst mit den unterschiedlichen geschmacksnoten von kondomen auskennt, genau die ken-puppe zu schenken, die sie sich mit 13 gewünscht hatte.

ìst das zynisch? 

ach was, ich bin nur der bote. 

zynisch sind die, die sich vom heutigen "ausfall" der zu spät ins amt gelangten ken-puppe so in ihrer glückssucht gestört fühlen, daß sie den öffentlichen raum mit unausgegorener häme und besserwisserei fluten müssen - und sich dabei höchste mühe geben, die wirklichkeit so "gut" wie möglich auszublenden. 

das passiert auf die art, in der diese dauer-verdrängung der unangenehmen wahrheiten eben betrieben wird: fokussierung. oder "haltet den dieb!"  er hat "gefallene" gesagt! wie kann er nur!?

ja, wie kann er nur jemandem ins "gewissen reden", der so einen begriff auf wikipedia nachschlagen muss und den eigenen zynismus mit einer klaren analyse des "ist" verwechselt und für den ersten dahergelaufenen gedanken sofort die beine breit macht und die eigene - wahrscheinlich nie vorhandene - unschuld opfert.

nüchtern betrachtet

überfordert eine double-bind botschaft per se die einfach gestrickten kinder unserer zeit, die eine sehnsucht nach einfachen und leicht verständlichen wahrheiten haben. am besten die, die sie vorher aus dem bauch heraus schon als solche und damit letztgültig "erkannt" haben.

und überhaupt: der böse onkel schimpft schon wieder. hat der noch nie was von "antiautoritärer erziehung" gehört? ach, ossi? na klar, diese ewig knarrzenden alten säcke, die nie einfach damit zufrieden sein können, daß sie endlich bananen in hülle und fülle haben können, ohne für die "bückware" anstehen zu müssen.

yep, der böse onkel schimpft - und eigentlich ist das ganz okay, wenn böse onkels schimpfen. von den ganzen "du du du" zern meiner kindheit hat sich keiner in meinem gedächtnis festgesetzt, wohl aber die ewig miesgelaunten WKI und WKII depressiven, die über "der mensch ist des menschen wolf" meditierten und nichts mehr befürchteten, als daß "der russe kommt". 

weil man sich an denen wenigstens "abarbeiten" konnte und den beschluss fassen, nie so erbärmlich zynisch wie die zu enden. und - gleichzeitig - nie aus den augen zu verlieren, daß "der russe" wirklich mal kommen könnte.

in der kindheit der werten mitblogger, die heute mit hohn und spott über den "bösen onkel" herziehen, scheint es an solchen archetypen zu mangeln. was einerseits erklärt, wie wenig sie mit kritik ("glückssüchtig") und noch weniger sie mit banalen wahrheiten umgehen können, wie der, daß "der russe" tatsächlich mal kommen könnte. 

soll ich es noch mal sagen, ihr happy-go-lucky-kids? ja, der russe könnte kommen.

 auch wenn "der russe" in diesem satz nur die funktion eines "platzhalters" hat und - so hoffe ich doch, auch wenn ich mir offen gestanden da nicht so sicher bin - nicht "den russen" als solchen an die wand malen soll. 

"könnte" ist zudem, falls das euren horizont überfordert, eine "möglichkeit". nicht einmal eine "wahrscheinlichkeit", einfach nur ein "maybe". und das gehört zu den dingen, die wir genau so gerne verdrängen, wie die vorstellung, daß wir gleich in ein auto einsteigen und dann von einem betrunkenen 19jährigen plattgefahren werden könnten oder einem ukrainischen lkw-fahrer, der sich übermüdet ganz auf seinen navi verlässt, der - nicht aktualisiert - die baustelle nicht kennt.

statt dessen schlucken wir, ganz jerry rubin, endlose reihen von pillen, um die banalitäten der wirklichkeit möglichst verdrängen zu können:



wir haben uns so schön eingerichtet in unserem wolkenkuckucksheim, als "gefährlich" werden nur dinge betrachtet, die uns die medien mit schöner regelmäßigkeit als solche zu unserer unterhaltung anbieten: ehec-keime, die vogel- schweine oder sonstwas grippe, die bösen bärtigen muselmanen und wie diese wegwerfgefahren alle heissen, mit denen wir uns so schön gruseln lassen, damit wir besser zu kontrollieren und zu manipulieren sind. gibt es was schöneres als angst? 

in fragen wie diesen könnte man ja mal bei george "dubya" bush nachfragen. der uns bei dieser gelegenheit auch erklären könnte, wie man es schafft, so etwas wie "die menschenrechte" zum patentrezept für jede künftige militärische intervention umzudefinieren und uns am ende fassungslos mit einem springer-reporter in einer deutschen talkshow konfrontiert, für den ein eingreifen "unserer jungs" in syrien - latürnich nur um die menschenrechte zu verteidigen - kein wirkliches problem ist ... was peter scholl latour, auch so ein böser onkel, schier entgeistert angesichts der unfassbaren dummheit dieses "spielsüchtigen" knilchs  aufstöhnen läßt: hat der kerl zu viel "call of duty" gezockt oder was?

wirklich gruselig ist nicht die präzise formulierung

derer sich heute gauck bedient, gruselig ist die ignoranz, mit der ihr begegnet wird, weil er eine "glückssüchtige" gesellschaft beim namen nennt und jeder im grunde die offen ausgesprochene erkenntnis zu verdrängen sucht: yep, wir sind ein land von kindsköpfen, ganz ihren bauklötzchen zugetan und unfähig, sich etwas vorzustellen.

womit ich im grunde bei meinen lieblings-topoi gelandet bin: die unfähigkeit, sich etwas "vorzustellen" und den hang, unangenehmes schnellstens aus unserer wahrnehmung zu verdrängen. 

die alten herren mit zigarre oder pfeife würden uns, gäbe es sie noch in ihrer reinen essenz und nicht in dieser geradezu homäopathischen variante eines joachim gauck, von morgens bis abends die leviten lesen und so lange auf den wecker gehen, bis wir uns dem "ernst der lage" stellen.

statt dessen: die wirklichkeit ist "alternativlos", jedenfalls so lange, bis sie sich von einem moment zum anderen in schnippsel auflöst und uns zu alternativen zwingt. 

und so lange uns niemand mit seinem "glückssüchtig"-genöle den spaß an unserer "glückssucht" verdirbt, ist doch alles im lot.

was neuss dazu gesagt hätte? 

er hätte sich einen joint gerollt, gute musik aufgelegt und sich scheckig gelacht über die offensichtliche unfähigkeit dieses landes, sich selbst wirklich noch ernst nehmen zu können. das mit der "glückssucht" hätte ihm gefallen, er war ja ein leary-adept und hatte das mit dem hedonismus und der exstase nur zu gut verstanden.

wolfgang, don't bogart that joint. pass it over to me.

in diesem sinne: die pause taste

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